Philemon und Baucis
Eine etwas andere Liebesgeschichte. Frei nacherzählt und interpretiert von Fred Lang.

Anmerkung:

Eine Beschränkung auf das Wesentliche zwischen zwei Menschen, die sich lieben, zusammen alt geworden sind und nur noch einen einzigen Wunsch haben, zeichnet dieses Meisterwerk aus. 
Eine Liebesgeschichte, in der das Wort Liebe nicht ein einziges Mal vorkommt.
Es geht mir übrigens nicht darum, Ovids herrliche Verse hier einfach nur zu zitieren. Sie kann jeder ohne große Mühe in allen erdenklichen Sprachen nachlesen. Sondern es gilt, mit dieser allerdings sehr subjektiven Interpretation vielleicht neues Interesse an den auch nach zweitausend Jahren immer noch aktuellen Werken dieses großen Dichters zu wecken.
Yin und Yang

In Phrygien, einer Landschaft im heutigen Griechenland, an einem Ort, der nur selten von Menschen besucht wird, trug sich vor unzähligen Jahren die folgende Geschichte zu.
In jener Zeit war es üblich, dass Götter von Zeit zu Zeit in Menschengestalt auf der Erde lebten, um sich unerkannt unter das Volk zu mischen und um ein wenig Abwechslung vom himmlischen Einerlei zu erfahren. Sicher war es ihnen auf die Dauer langweilig geworden, immer nur unter ihresgleichen zu sein, und sie waren wohl auch der ständigen Intrigen überdrüssig, die damals nicht selten ihr unsterbliches Dasein zu vergiften drohten.
Überhaupt waren die damaligen Götter noch menschlicher, nahmen auch sehr viel mehr Anteil an uns Sterblichen als heutzutage und mischten sich oft ungefragt in irdische Angelegenheiten. Dabei kam es manchmal zu großem Streit zwischen ihnen, der dann nicht immer auf friedliche  Weise endete. Alles in allem waren Götter und Menschen in ihrem Verhalten nicht sonderlich weit voneinander entfernt.
Diesmal waren es Jupiter und sein Sohn, die auf der Durchreise an den Ort kamen, an dem diese Erzählung sowohl ihren Anfang als auch ihr so wunderbares Ende nahm.
Zuvor hatten die beiden allerlei Unrecht und wenig Gastfreundschaft von den Menschen erfahren, die ja nicht wußten, mit wem sie es zu tun hatten und sich folglich auch wenig Mühe gaben, den Fremdlingen zu gefallen. Dies war nun eine schmerzliche Erfahrung  und ein hoher Preis für die Anonymität der Reisenden. Die Versuchung, sofort ein göttliches Strafgericht abzuhalten, war groß und es fehlte nicht viel an seiner Ausführung.
Immer noch murrend und zornig auf die Menschen, die ihnen Speise und Trank in ihrer menschlichen Unwissenheit verweigerten, ja sogar die Bitte um eine Bleibe für die Nacht mit höhnischen Worten abschlägig beschieden hatten, gelangten sie müde und hungrig bei anbrechender Dunkelheit zu einer kleinen, mit Stroh gedeckten, armseligen Hütte.
Hier lebten  Baucis und ihr Mann Philemon. Sie hatten schon in früher Jugend geheiratet und waren nun zusammen alt geworden. An irdischen Gütern fehlte es reichlich, aber das war ihnen nicht wichtig und sie bekannten sich offen zu ihrer Armut.
Als nun die Himmelsbewohner gebeugt durch die niedrige Tür traten, wurden sie freundlich empfangen. Philemon bat sie auf seine bequemste Ruhebank, und die emsige Baucis entfachte  das fast erloschene Herdfeuer neu und traf alle erdenklichen Vorbereitungen für eine warme Mahlzeit.
Wer nun glaubt, dass Philemons Beitrag sich auf den Gang in den Keller und das Ausschenken von Wein beschränkte, wird enttäuscht. Vielmehr holte er den Kohl aus dem sorgsam bewässerten Garten und beteiligte sich auch sonst auf "Hausmanns Art" fleißig an den für die Besucher kaum fassbaren Vorbereitungen.
Es wurde nun aufgetischt was Küche und Keller hergaben. Sogar ein lange verschonter und für festliche Gelegenheiten aufbewahrter geräucherter Schweinerücken musste dran glauben. Allerdings war es nur ein kleines Stück, doch dies wurde durch eine Fülle von Beilagen mehr als ausgeglichen, die nach und nach an einen anfangs wackligen Tisch gebracht wurden. Doch die findige Baucis glich sein zu kurzes Bein einfach mit einem untergeschobenen Stein wieder aus und schon war er eben. Zuvor war er noch mit Minzeblättern abgerieben worden und nun gab es als Vorspeise eine Vielzahl von Früchten, teils frisch aus dem Garten, teils getrocknet oder auf bewährte Weise eingemacht. Dazu kamen Rettich, Endivien und Stücke geronnener Kuhmilch. Eier, nur leicht gewälzt in der milden, nicht glühenden Asche. Das alles wurde auf irdenem Geschirr, zusammen mit dem inzwischen fertigen Kohl und dem Schweinerückchen, vor den hungrigen Augen der Gäste auf gefällige Weise serviert. Zum Nachtisch gab es Nüsse und Feigen, gemischt mit runzligen Datteln. Es gab Pflaumen und duftende Äpfel in offenen Körben und saftige Trauben dazu. Auch Waben mit glänzendem Honig fehlten nicht auf dem Tisch. Ein Mischkrug, geformt aus dem selben "Silber" wie das Geschirr, die Becher aus Buchenholz, innen mit gelbem Wachs ausgestrichen, dienten einem frischen Landwein aus neuester Lese zu flüchtigem Aufenthalt. Unter heiterem allerdings nicht gerade in die Tiefe gehenden Geplauder verging die Zeit, und freundliche Mienen rundum bezeugten ein gelungenes Mahl.
Doch nun bemerkten die Gastgeber wie der Krug, so oft man ihn auch leerte, immer von neuem sich füllte, und sie staunten über dieses Wunder. Zitternd und mit erhobenen Händen stammelten sie voller Angst um Gnade dafür, dass das Mahl nur in Eile bereitet und für so hohen Besuch vielleicht zu einfach gewesen sei.
Es gab da noch eine Gans, die nun den himmlischen Gästen zu Ehren geschlachtet werden sollte. Doch sie ließ sich nicht von den Alten fangen und flüchtete unter großem Geschrei zu den Göttern, die sich erst jetzt zu erkennen gaben: Eine große Szene in einer kleinen Stube!
Noch ganz betäubt von den Ereignissen folgten die ängstlichen Menschen, auf ihre Stöcke gestützt, dem himmlischen Paar nach draußen und auf einen nahe gelegenen Hügel.
Hier hatte man eine herrliche Aussicht. Es war einer jener Orte, an denen man sich dem Himmel näher fühlt und wie geschaffen für das Gastgeschenk, das die so freundlich aufgenommenen Reisenden ihren Wirten nun machen wollten.
Zuvor aber mussten sie mit ansehen wie das göttliche Strafgericht ihre ruchlosen Nachbarn doch noch ereilte. Ringsumher versank alles in einem Sumpf. Nur ihre Hütte verwandelte sich in einen Tempel mit goldenem Dach. Die Säulen, die Wände und der Boden waren aus edelstem Marmor.
Da sieht man wieder, dass auch ein reichliches Mahl nicht immer milde stimmt. Und wenn man es gar mit Göttern zu tun hat, immer vorsichtig sein sollte mit dem was man sagt oder vielleicht auch besser nicht sagt.
Dies muss den beiden Alten durch den Kopf gegangen sein als sie nach ihren Wünschen gefragt wurden. Nur wenige Worte wechselten sie untereinander und baten, für den Rest ihres Lebens die Hüter des soeben geschaffenen Tempels sein zu dürfen. Und da sie in Eintracht die Jahre verbracht hätten, solle dieselbe Stunde sie fort nehmen damit keiner des anderen Grab sehen müsse. Diese Bitte wurde ihnen erfüllt. Nach einer Reihe von Jahren, als ihre Zeit gekommen war, sahen zugleich Philemon und Baucis wie sich ihre Körper mit grünen Blättern und Zweigen umkleideten. Als über ihre Gesichter schon die Wipfel der Bäume wuchsen, sprachen sie noch miteinander solange es ihnen vergönnt war und sagten sich Lebewohl. Danach verhüllten sie Zweige und Laub. 
Heute noch stehen Stamm neben Stamm sich nah' - aus den beiden Körpern gewachsen.

Foto: Zwei Bäume, zwei Menschen
Copyright by Fred Lang
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Nachzulesen auch in meinem Erstling: "Von Mäusen, Menschen und anderem Getier"
Zum Buch >>>

Außerdem erschienen in "SpruchReif". Lyrik und Prosa. Anthologie 2007
ISBN: 3-86703-654-3 / ISBN (neu): 978-3-86703-654-2


Hier noch der Originaltext: 

Amnis ab his tacuit. factum mirabile cunctos
moverat: inridet credentes, utque deorum
spretor erat mentisque ferox, Ixione natus
'ficta refers nimiumque putas, Acheloe, potentes 

esse deos, dixit si dant adimuntque figuras.
obstipuere omnes nec talia dicta probarunt,
ante omnesque Lelex animo maturus et aevo,
sic ait: inmensa est finemque potentia caeli
non habet, et quicquid superi voluere, peractum est, 

quoque minus dubites, tiliae contermina quercus 
collibus est Phrygiis modico circumdata muro;
ipse locum vidi; nam me Pelopeia Pittheus
misit in arva suo quondam regnata parenti.
haud procul hinc stagnum est, tellus habitabilis olim, 

nunc celebres mergis fulicisque palustribus undae; 
Iuppiter huc specie mortali cumque parente
venit Atlantiades positis caducifer alis.
mille domos adiere locum requiemque petentes,
mille domos clausere serae; tamen una recepit, 

parva quidem, stipulis et canna tecta palustri, 
sed pia Baucis anus parilique aetate Philemon
illa sunt annis iuncti iuvenalibus, illa
consenuere casa paupertatemque fatendo
effecere levem nec iniqua mente ferendo; 

nec refert, dominos illic famulosne requiras: 
tota domus duo sunt, idem parentque iubentque.
ergo ubi caelicolae parvos tetigere penates
summissoque humiles intrarunt vertice postes,
membra senex posito iussit relevare sedili; 

cui superiniecit textum rude sedula Baucis
inque foco tepidum cinerem dimovit et ignes
suscitat hesternos foliisque et cortice sicco
nutrit et ad flammas anima producit anili
multifidasque faces ramaliaque arida tecto 

detulit et minuit parvoque admovit aeno,
quodque suus coniunx riguo conlegerat horto,
truncat holus foliis; furca levat ille bicorni
sordida terga suis nigro pendentia tigno
servatoque diu resecat de tergore partem 

exiguam sectamque domat ferventibus undis.
interea medias fallunt sermonibus horas
sentirique moram prohibent. Erat alveus illic
fagineus, curva clavo suspensus ab ansa:
is tepidis inpletur artusque fovendos

accipit. in medio torus est de mollibus ulvis
inpositus lecto sponda pedibusque salignis.
vestibus hunc velant, quas non nisi tempore festo
sternere consuerant, sed et haec vilisque vetusque
vestis erat, lecto non indignanda saligno.

adcubuere dei. mensam succincta tremensque
ponit anus, mensae sed erat pes tertius inpar:
testa parem fecit; quae postquam subdita clivum
sustulit, aequatam mentae tersere virentes.
ponitur hic bicolor sincerae baca Minervae 

conditaque in liquida corna autumnalia faece 
intibaque et radix et lactis massa coacti
ovaque non acri leviter versata favilla,
omnia fictilibus. post haec caelatus eodem
sistitur argento crater fabricataque fago 

pocula, qua cava sunt, flaventibus inlita ceris; 
parva mora est, epulasque foci misere calentes,
nec longae rursus referuntur vina senectae
dantque locum mensis paulum seducta secundis:
hic nux, hic mixta est rugosis carica palmis 

prunaque et in patulis redolentia mala canistris 
et de purpureis conlectae vitibus uvae,
candidus in medio favus est; super omnia vultus
accessere boni nec iners pauperque voluntas.
'Interea totiens haustum cratera repleri 

sponte sua per seque vident succrescere vina: 
attoniti novitate pavent manibusque supinis
concipiunt Baucisque preces timidusque Philemon
et veniam dapibus nullisque paratibus orant.
unicus anser erat, minimae custodia villae: 

quem dis hospitibus domini mactare parabant; 
ille celer penna tardos aetate fatigat
eluditque diu tandemque est visus ad ipsos
confugisse deos: superi vetuere necari
"di" que "sumus, meritasque luet vicinia poenas 

inpia" dixerunt; "vobis inmunibus huius 
esse mali dabitur; modo vestra relinquite tecta
ac nostros comitate gradus et in ardua montis
ite simul!" parent ambo baculisque levati
nituntur longo vestigia ponere clivo.

tantum aberant summo, quantum semel ire sagitta 
missa potest: flexere oculos et mersa palude
cetera prospiciunt, tantum sua tecta manere;
dumque ea mirantur, dum deflent fata suorum,
illa vetus dominis etiam casa parva duobus 

vertitur in templum: furcas subiere columnae, 
stramina flavescunt aurataque tecta videntur
caelataeque fores adopertaque marmore tellus.
talia tum placido Saturnius edidit ore:
"dicite, iuste senex et femina coniuge iusto

digna, quid optetis." cum Baucide pauca locutus
iudicium superis aperit commune Philemon:
"esse sacerdotes delubraque vestra tueri
poscimus, et quoniam concordes egimus annos,
auferat hora duos eadem, nec coniugis umquam

busta meae videam, neu sim tumulandus ab illa." 
vota fides sequitur: templi tutela fuere,
donec vita data est; annis aevoque soluti
ante gradus sacros cum starent forte locique
narrarent casus, frondere Philemona Baucis, 

Baucida conspexit senior frondere Philemon.
iamque super geminos crescente cacumine vultus
mutua, dum licuit, reddebant dicta "vale" que
"o coniunx" dixere simul, simul abdita texit
ora frutex: ostendit adhuc Thyneius illic 

incola de gemino vicinos corpore truncos.
haec mihi non vani (neque erat, cur fallere vellent)
narravere senes; equidem pendentia vidi
serta super ramos ponensque recentia dixi
"cura deum di sint, et, qui coluere, colantur."

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